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Ein Mann, ein Zelt, ein Fahrrad. Teil 4: Voran in die Vergangenheit

Nach 5 Tagen in Warschau und dem Geburtstag seiner Freundin, macht Jörg sich wieder mit seinem Bike auf den Weg. Was er in Warschau erlebt hat, siehst Du hier.

Fünf volle Tage blieb ich in Warschau, feierte mit meiner Freundin ihren 30. Geburtstag, entspannte, arbeitete am Blog und kümmerte mich um mein Fahrrad, das nach über 2000 Kilometern mal wieder sauber gemacht und gewartet werden wollte. Ich kannte Warschau schon von vorherigen Besuchen und verzichtete deshalb darauf, bei dauerhaft nass-kaltem Wetter, das Zentrum aufzusuchen – außer einmal, um kleine Änderungen an der Ausrüstung vorzunehmen. Donnerstag, der Tag der Weiterreise, war dann wieder sonnig und so fuhr ich zum ersten Mal mit dem Rad in die Innenstadt. Ania war mit dem Bus nachgekommen, um mich vom Bahnhof zu verabschieden. Meine Reise ging weiter...

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Der Winter kommt

Der Winter rückte merklich näher und Beeilung war angesagt, was in meinem Fall bedeutete, dass ich die 350km nach Krakau per Schnellzug zurücklegen, mir die Stadt vom Sattel aus oberflächig anschauen und mich dann auf den Weg ins 85km gelegene Auschwitz machen würde, um dort mit mehr Muße das mir wichtigere Konzentrationslager zu besichtigen. Geprägt durch die alten Schwarzweißfotos aus dem Unterricht und der Liste Schindlers erwartete ich irgendwie – etwas naiv – einen grauen Ort vorzufinden, dem der Horror der Nazizeit noch deutlich anzusehen ist. Natürlich war dem nicht so und folglich kam ich nach überraschend schönen und bunten Herbstlandschaften in eine ganz gewöhnliche Stadt, die sich nur durch das Museum Auschwitz von anderen polnischen Städten unterschied.

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Dunkle Vergangenheit

Das Konzentrationslager besteht aus drei Teilen. Auschwitz I ist das Hauptlager und der Schriftzug „Arbeit macht frei“ sein absurdes Wahrzeichen. Auschwitz II Birkenau ist ein drei Kilometer entferntes und deutlich größeres Lager, das erst nach der Wannsee Konferenz gebaut wurde und Auschwitz zu einem organisierten Vernichtungslager machte. Der dritte Teil gehörte nicht zur geführten Tour und besteht aus wenigen Überresten der Giftgasfabrik von IG Farben, in der das Zyklon B Gas hergestellt wurde, durch das so viele Menschen einen grausamen Tot fanden.

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Nach der Führung war ich froh, dass die Reise in Deutschlands dunkelste Kapitel hinter der nächsten Kurve, in Form einer normalen Reihenhaussiedlung ein abruptes Ende fand. Ich radelte noch bis zum frühen Abend und schlug circa 40km vor der tschechischen Grenze im Wald mein Nachtquartier auf.

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Über die Grenze nach Tschechien

Der folgende Tag versprach früh gut zu werden. Zwei Rehe verschwanden im Dickicht, als ich wohl geruht aus dem Zelt kletterte. Es sind diese kleinen Dinge, die das Wildcampen so besonders machen. Die Straßen waren gut und die Strecke abwechslungsreich und bei stetig steigenden Temperaturen erreichte ich gegen Mittag die nächste Grenze und befand mich im dritten Land meiner Reise. Sofort waren erkennbar mehr Radfahrer unterwegs und die Leute auf den Straßen dementsprechend mit dem Anblick eines vollgepackten Reiserades vertrauter. Während die meisten Menschen in Polen erst kritisch-ungläubig und dann freundlich-grüßend auf mich reagierten, winkten mir die Tschechen sogleich begeistert zu und feuerten mich teils sogar an, als ich die vielen kleinen, aber steilen Hügel auf und ab strampelte, die nach Ostrava führen. Am topographischen Höhepunkt angekommen, pausierte ich und dehnte mich, um anschließend die letzten 20km – vom warmen Wetter geradezu berauscht – barfüßig in die einstige Industriestadt einzurollen, wo ich einen Freund besuchte, den ich aus China kenne.

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Es war schön ein vertrautes Gesicht in einem fremden Land zu sehen und ich fühlte mich ein wenig in meine Zeit in Wuhan zurückversetzt. Julian zeigte mir die kleine Stadt mit ihrem historischen Kern und tags darauf Ostravas neu entdecktem Stolz – stillgelegte Industrieanlagen von gigantischem Ausmaß und der Stadt rostige Zeugen einer schmutzigen Vergangenheit. Es war eine Zeitreise der anderen Art und obwohl ich Mutter Natur klar bevorzuge, finde ich ausgedienten Vater Stahl ebenfalls faszinierend. Passend zu den Dimensionen des Sonntages – stets geliebter Pizzatag –  gab es abends eine Margherita in Familiengröße. Den Montag wendete ich mich meiner nahen Zukunft zu und begab mich an die überfällige Routenplanung, da es galt, nach meinem nächsten Stopp in Wien, möglichst schnell in wärmere Regionen zu kommen. Allerdings wollte ich die nächsten 360 Kilometer, vom tschechischen Nordosten, über Bratislava im slowakischen Südwesten, nach Wien im österreichischen Osten, noch mit dem Rad fahren. Von dort würde es dann mit dem Zug nach Florenz gehen.

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